Test Self-Supported Running oder Greifswalder und Berliner trainieren zusammen

Die Idee:
„Berlin, Berlin – wir laufen nach Berlin!“

Das war ursprünglich mehr oder weniger mein Motto für einen besonders langen Trainingslauf. Dahinter stand die Frage oder Herausforderung, ob ich es schaffen würde, selbstorganisiert so weit zu laufen. Die Entfernung von Greifswald nach Berlin ist nicht gerade gering, so dass auch ein „Doppeldecker“ an zwei aufeinander folgenden Tagen mit Übernachtung in Frage kam.
Bei der Planung stellte sich schnell heraus, dass mir die Strecke dann doch zu lang sein würde, weshalb im ersten Schritt Berlin durch Bernau ersetzt wurde, wo sich ja im Nordosten der erste S-Bahn-Anschluss befindet. Attraktiv erschien zunächst wegen der guten Ausschilderung der Fernradweg Berlin-Usedom (berlin-usedom-radweginfo.de), doch der hat schon ab Anklam 215 km, zu denen ungefähr 35 km von Greifswald nach Anklam hinzu kämen. Selbst mit zwei „halboffiziellen“ Abkürzungen zwischen Joachimsthal und Steinhöfel (Originalweg: 28 km, Abkürzung: 17 km, also -11 km) sowie zwischen Werbelow und Bugewitz (Originalweg: 69 km, Abkürzung: 44 km, also -25 km) wäre es zuviel mit deutlich über 200 km – es musste also direkter sein.

Streckenplanung

Bei Google Maps oder Pedometer fanden sich kürzeste Wege für Fußgänger zwischen Greifswald und Bernau von etwa 177 km Länge. Das erschien erheblich realistischer. Allerdings führten diese teils auf stark frequentierten Straßen, teils komplett abseits größerer Orte – es ging durch Uckermark und Schorfheide. Die notwendige Läuferverpflegung erforderte aber unbedingt regelmäßige Einkaufsmöglichkeiten! Folglich suchte ich über diverse Stützpunkte eine Strecke heraus, die Supermärkte und Natur bot und bezüglich der Länge nur kleinere Kompromisse machte. Da der Lauf auch über Nacht geplant war, konnten das nicht nur Supermärkte sein. Zum Glück gab es erstaunlich viele Tankstellen mit 24h-Öffnung, insbesondere im Norden.

Zeitplan

Zeitlich bedingt ergaben sich mehrere Optionen mit Starts am Morgen mit Übernachtung, am Nachmittag oder frühen Abend mit Tankstellen in der Nacht und dem ersten Laden in einem Dorf hinter Neubrandenburg (öffnet 7 Uhr!). Als ich Franz meinen Plan vorstellte und ihn fragte, ob er vielleicht einen Abschnitt mitlaufen würde, antwortete er nach Art vom Sender Jerewan: Im Prinzip ja, aber … Dienstlich bedingt wäre es für ihn freitags günstiger als samstags und wegen des Werderseelaufs in Bremen sollte es das Wochenende um den 8.März sein. Kurz darauf hatte er sogar noch Fabian als Fahrradbegleitung angeworben. David meldete sich spontan auch an, einen langen Trainingslauf von irgendwo nach Greifswald machen zu wollen. Dazu bot sich das per Bahn erreichbare Neubrandenburg an. Unser Plan sah nun so aus: Freitagmorgens ab Bernau, Franz läuft mit bis Templin, dann folgt eine Solo-Strecke, bis David am späten Abend bei Neubrandenburg hinzu kommt.

Start

Kurzfristig änderte ich noch die Startzeit nach vorn, da die Sorge bestand, dass wir der Zeitplan vielleicht zu optimistisch war. So stand ich am Freitagmorgen zehn nach vier auf, joggte bereits in Laufklamotten anderthalb Kilometer zum Greifswalder Bahnhof und fuhr mit dem Regionalexpress nach Bernau. Da hatte ich reichlich Zeit für das Eincremen meiner Füße mit Anti-Blasen-Gel, fürs Frühstück (Baguette belegt mit 2 Bananen sowie einige Waffeln), für die finale Sortierung der Sachen in meinen Laufrucksack und in einen Extrabeutel für den Fahrradkorb, und für ein bisschen Dösen. Je näher Berlin kam, desto voller wurde der Zug. Um 7:15 Uhr angekommen war noch Zeit den Bernauer Bahnhof anzusehen (die ramponierte Digitaluhr aus den 80er auf dem Vorplatz blieb in Erinnerung) und zu frösteln, bis Franz und Fabian aus Berlin eintrafen und wir gegen 8 Uhr los liefen. Gleich nach hundert Metern nahm ich die falsche Straße, was aber gleich bemerkt und korrigiert wurde. Wir kamen am Stadtpark vorbei, der mir in bester Erinnerung blieb, weil ich dort im Coronajahr 2020 meinen ersten längeren Lauf nach 15 Jahren Laufpause absolvieren durfte und nach 12 Stunden über erreichte 100 km sehr glücklich war. Unter anderem waren einige Läufer der LG Mauerweg mit ihrem Partyzelt dabei, was zu meinem ersten Start bei den 100 Meilen im darauf folgenden Jahr führte. Bei jenem Mauerweglauf 2021 lernten Franz (radbegleitet von Fabian) und ich (radbegleitet von meinem Bruder) uns kennen, als wir mitten in der Nacht aufeinander trafen, einer kaputter als der andere, und eine längere Strecke bis kurz vor das Ziel zusammen schwankten (laufen war es nicht mehr). Fabian ist in Berlin seit Jahrzehnten beheimatete österreichische Prominenz, denn er hat nicht nur viele Berliner (Straßen-)Kunstwerke geschaffen, sondern auch das wunderbare Laufwolke-Logo!

Straße oder Waldweg?

Nach Verlassen eines Vororts Bernaus kam die erste Stunde der Wahrheit: Straße oder Waldweg? Im Vorfeld hatte ich lange gegrübelt, wo es lang gehen sollte. Manchmal gab es eindeutig erkennbare Radwege neben der Straße, dann war es klar und einfach. Manchmal waren die besten Verbindungen zwischen Ortschaften lange, direkte Wald- oder Feldwege oder (vermutlich) kaum befahrene Kreisstraßen – auch dann fiel die Entscheidung leicht. Auf einigen Abschnitten konnten aber weder Open Street Maps noch Google klare Aussagen liefern, wie befahren die Straßen wirklich waren und ob es Radwege daneben gab. So war es auch hier, zwischen Bernau und Lanke. Die alternativen Waldwege wollte ich nicht unbedingt nutzen, weil ich lange und kraftraubende Zusatzkilometer befürchtete, vielleicht auch komplizierte Navigation. Genau so kam es dann auch! Die Straße war für einen Freitagmorgen mäßig befahren, hatte aber immer wieder Leitplanken. Auf solchen Abschnitten versuchten wir zunächst links zu laufen, um den entgegenkommenden Verkehr gut sehen zu können. Fabian hatte dabei ein sehr schlechtes Gefühl und hielt sich mit seinem Fahrrad besser rechts. So besetzten wir aber beide Straßenränder und konnten froh sein, dass die Autofahrer recht rücksichtsvoll waren, sich selten auf unserer Höhe begegneten und falls doch, auch mal warteten. Uns war aber schnell klar, das musste nicht immer so bleiben und wir wollten nicht als Verkehrsopfer enden. So versuchten wir es teils auf einem parallel zur Straße verlaufenden Waldweg – der war allerdings abschnittsweise nicht fahrradtauglich und ging auf weichem Geläuf permanent auf und ab, während die Asphaltstraße höhennivelliert war. Als dieser Weg abrupt endete, kehrten wir wieder auf die Straße zurück und liefen rechts vor dem Fahrrad. Wie war ich froh, als dieser Abschnitt endlich vorbei war! In der Nachbetrachtung stellte ich fest, diese 7 km hätten sich mit knapp einem Kilometer Umweg durch den Wald deutlich entspannter bewältigen lassen, aufgrund unserer gelaufenen Ausweichmanöver wäre die alternative Strecke vielleicht auch schneller gewesen.

Traumhafte Natur

Das nächste Teilstück entschädigte uns für den stressigen Start. Es ging -abseits der zur Autobahn führenden Straße- auf breitem Feldweg an zwei Seen entlang. Die Sonne schien, es wurde warm, man hätte fast baden wollen, doch wir hatten ja noch einiges vor. Es war auf jeden Fall so, wie man sich einen Lauf durch Brandenburger Landschaft vorstellt. Im nächsten Ort trafen wir zwar nicht ganz den Weg, aber den nächsten wunderschönen See und liefen in Richtung einer Autobahnbrücke. Eigentlich sollten wir hundert Meter weiter rechts sein, doch das war oberhalb eines Hangs und dahin führte erst einmal nichts. Unser Weg ging dann unter der Brücke hindurch, die den schmalen See überspannte. Nun mussten wir „nur noch“ zurück auf den eigentlichen Pfad gelangen. Doch die auf der Karte eingezeichneten Waldwege verliefen leider irgendwo im Nirgendwo! Für unsere tapfere Fahrradbgleitung war das ein Albtraum, denn es ging hoch und runter durchs Gebüsch, bis sich endlich eine „Waldautobahn“ fand, die die Fortsetzung unserer Originalstrecke war. Von da an gab es lange Zeit kaum Probleme, aber viel schöne Natur. Es folgte ein Radweg an einer kaum befahrenen Straße bis zum Finowkanal und entlang des Kanals ein schöner Rad- und Wanderweg bis zum Ortsende von Zerpenschleuse, von wo es auf Feld- und Waldwegen direkt nach Groß Schönebeck zum ersten Stopp ging. Zwei Bonusmeilen inklusive hatten wir gut 33 km hinter uns gebracht, als wir dort 12:45 Uhr eintrafen, etwa 30 min später als ursprünglich geschätzt.

Im Supermarkt stellte ich fest, dass mein Trinkbedarf zwar groß, der Hunger aber noch überschaubar war. Franz konnte ein Eis verdrücken, mir genügten Salzbrezeln, Cola und eine große Flasche stilles Wasser. Die war sogar aus Glas und damit besonders nachhaltig, hatte aber doch nur 0.75 l. Das stellte noch kein Problem dar, fürs erste genügte die Menge und unser nächstes Ziel Templin sollte ja keine 30 km entfernt sein. Hinter Groß Dölln kamen wir an einem ehemaligen Militärflugplatz vorbei, der vor über zehn Jahren mit der damals größten Photovoltaikanlage Deutschlands bebaut wurde. Dabei ergab sich erneut das Problem, das einmal zu spätes Abbiegen sich nicht immer so leicht korrigieren liess, wie es die Kartendarstellung des Navis suggerierte. Letztlich standen wir wenige dutzend Meter vor unserem weiterführenden Weg und es ging (eigentlich) nur nach rechts oder links. Fabian machte über links einen kleinen Umweg von ein paar hundert Metern, Franz und ich schlugen uns direkt durch die Büsche. Nach fünf Minuten war der Weg erreicht, vermutlich an der alten Landebahn, nun mit Solarmodulen bebaut. Ein bißchen Brandenburger Sandwüste, etwas mehr Kiefernwald, noch einige Kilometer beste Wege, schon hatten wir Templin erreicht. Kaum war der lokale Edeka gefunden musste sich Franz zwischen baldiger Zugabfahrt vom 3-400 m entfernten Bahnhof und einem Einkauf entscheiden und wählte die dritte Option: Beides! Klingt salomonisch, doch am frühen Freitagabend ging es an den Kassen so gemächlich zu, dass sie leider den Zug verpassten. Immerhin gab es stündliche RE-Verbindungen! Ich hatte immer noch genug feste Vorräte und füllte den Flüssigbedarf nach mit einer Brause für den Magen und einem (ganzen!) Liter für die beiden Softflasks. Nur ein Erdnussriegel kam noch hinzu. Meine kurze Hose behielt ich an, zog aber ein warmes Unterhemd unter das T-Shirt und Ärmlinge an. Dazu kamen Buff, Pulswärmer, Stirnlampe und Warnweste, die ich hinten halb über meine Trinkweste (Laufrucksack) drapierte, um für die beginnende Dunkelheit gewappnet zu sein. Die Sachen von Fahrrad musste ich nun natürlich selbst tragen, aber es passte alles in den kleinen Rucksack hinein.

Finstere Zeiten

Kurz nach halb sechs ging es weiter Richtung Norden, zunächst 2 km an einer mäßig befahrenen Landesstraße ohne Radweg, dann auf kleineren Straßen und Wegen fast ohne Verkehr. Dank klarem Himmel und mehr als halbem Mond war die Straßenmarkierung noch lange sehr gut erkennbar und die Stirnlampe eher zur Vorwarnung entgegenkommender Autos als zur Straßenbeleuchtung erforderlich. Um Akkuzeit zu sparen, nutzte ich über längere Zeit lediglich die Sparstufe (10 Lumen) meiner Petzl Actik (Core). Diese hat drei weiße Helligkeitsstufen: 600 lm – hält maximal 2 h und sollte daher nur für kurzzeitige Ausleuchtung zur Streckenfindung, aber nicht versehentlich dauerhaft benutzt werden, 100 lm – hält mit 7-8 h nur in kurzen Sommernächten durch die ganze Nacht, ist aber komfortabel hell, 10 lm – hält mit etwa 70 h praktisch ewig, zumal die Lampe bei niedrigem Akkustand automatisch in diesen Modus wechselt. Kurz vor dem Lauf hatte ich sicherheitshalber einen Wechselakku gekauft und hätte also die Wege auch großzügiger ausleuchten können. Doch dann wollte ich es wissen und sparte über längere Strecken. Das ermöglichte immerhin die Lektion, dass sich die Akkulaufzeit -wie im Kleingedruckten erwähnt- bei niedriger Temperatur deutlich verringert, denn gegen Ende der Nacht war es schon ganz schön funzlig, weil nur noch 10 lm zur Verfügung standen. Leider war ich da schon zu faul zu allem, auch zum simplen Batteriewechsel. Beim JUNUT muss ich das unbedingt an einem VP einplanen! Mehr Licht sorgt doch für deutlichen Laufkomfort und wahrscheinlich auch mehr Aufmerksamkeit. Nicht ganz unwichtig, wenn es sich um Feldwege mit groben Pflastersteinen handelt, die auf dem Foto hoffentlich erkennbar sind. Doch die meisten Wege bis zu nächsten Station Feldberg (und auch danach) waren einsame asphaltierte Landstraßen, was mir sehr gut passte. Mit Hörspiel und Musik in den Ohren kam ich ganz gut voran.

Nächtliche Impressionen beim Schein der Kopflampe

Nix zu haben in und um Feldberg

Bei der Planung stand immer die Frage im Raum, welches durchschnittliche Tempo laufbar wäre. Wichtig war das an zwei Stellen: In Feldberg und beim Treff mit David. Feldberg bietet eine Menge Einkaufsmöglichkeiten wie Supermärkte, Discounter, Tankstellen, Imbisse und Restaurants. Leider schließen fast alle um 20 Uhr, mit Ausnahme eines Imbisses (21 Uhr) und diverser Gaststätten, die ich aber nur im Notfall zum Nachfüllen von Wasser aufsuchen wollte. Meine Planung war eigentlich von Anfang an mehr ein Wunsch, noch vor 20 Uhr in Feldberg zu sein. Deshalb entschied ich mich für den frühesten Zug aus Greifswald und wir starteten morgens um acht statt neun; doch spätestens in Templin war klar, dass es in Feldberg nix mehr geben würde. In dem (kleinen) Teil der Stadt, durch den ich gegen 22:30 Uhr lief, waren die Bürgersteige längst hochgeklappt und fast niemand war auf der Straße zu sehen. Das vorausahnend hatte ich noch ein wenig Reserve in den Trinkflaschen gelassen und nun musste es halt reichen bis ins rund 30 km entfernte Neubrandenburg, wo es 24/7-Tankstellen gab.

Wechsel auf Nachtmodus

War ich tagsüber bei frühlingshaftem Wetter (Sonne, über 15 °C) zumeist in kurzer Hose, langen Kompressionsstrümpfen, kurzem T-Shirt und Basecap gelaufen, so hatte ich bereits am frühen Abend mit Unterhemd, Ärmlingen und Buff nachgerüstet. Nun war es Zeit für die Nachtkleidung, es sollte auf wenige Grad über Null abkühlen. Das bedeutete, die Schuhe aus- und die langen Wintertights anzuziehen, was sich im Freien als keine leichte Übung herausstellte, die ich nur bibbernd und mich schüttelnd erledigen konnte. Dazu gab es ein langes Shirt, eine (halbwegs) winddichte Jacke, Handschuhe und Wintermütze. Einige Kilometer weiter war mir wieder warm, doch lieber etwas Schweiß produzieren als frieren!
David war inzwischen in Neubrandenburg eingetroffen und 23 Uhr in meine Richtung losgelaufen, also nach Südsüdost. Es war abzusehen, dass wir uns etwa bei der Hälfte dieses knapp 30 km langen Teilstücks treffen würden. Kurz nach ein Uhr sah ich dann einen leicht flackernden Leuchtpunkt langsam näherkommen, ein untrügliches Zeichen, dass wir die gleiche Straße genommen hatten. Kurz hatte ich noch überlegt, mir irgendeinen blöden Scherz auszudenken wie meine eigene Stirnlampe auszuschalten und dann zurück oder einfach an ihm vorbei zu laufen, doch ich war schon zu geschafft und froh über die Begleitung, so das es eine ganz normale Begegnung wurde – so normal es eben sein kann, wenn sich nachts auf einsamer Landstraße zwei Läufer treffen. Wie viel wir von unseren bisherigen Tageserlebnissen erzählten und ab wann es schweigsamer wurde, habe ich schon wieder verdrängt oder vergessen. Noch erinnern kann ich mich, dass der Weg bis Burg Stargard länger war als gedacht, da sich auch weit entfernte Dörfer als Ortsteile bezeichneten (eine Gemeindereform förderte in MV die Bildung von Großgemeinden). Dass der Ort selbst recht lang war, wusste ich von der Planung her noch ganz gut; dass zwischen seinem Ende und dem Ortsanfang Neubrandenburgs nur ein kurzes Stück war, kam mir auf jeden Fall sehr entgegen. In Neubrandenburg liefen wir einige Zeit an der großen Bundesstraße B96 entlang, die -doppelspurig- wie eine der großen Magistralen Berlins aussah, aber morgens gegen drei fast verkehrsfrei war.

Auf den „Rewe2go“-Shop an der Tankstelle hatte ich mich schon lange gefreut, nicht nur wegen des dringend benötigten Flüssigkeitsnachschubs, sondern weil ich auf das nächtliche Einkaufserlebnis im Laden neugierig war, seit ich bei der Planung darauf gestoßen war. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen gewöhnlichen Tankstellen-Shop. Wie üblich, hatte der nachts seine Türen geschlossen. Man konnte also nicht durch wohlige Wärme wandeln und sich von seinen Bedürfnissen inspirieren lassen wie in meiner Phantasie, sondern musste seine Wünsche am Nachtschalter der Tankstelle äußern. So beschränkte ich mich erneut auf die üblichen Verdächtigen: 0.5 l Cola für mich und 1 l stilles Wasser für die Softflasks, von denen eine zusätzlich noch mit Isopulver versorgt wurde. Während der wenigen Minuten Standzeit wurde mir so kalt, dass ich auch noch meine Regenhose überzog und damit fast „all in“ ging bzw. „all on“ lief, denn nur durch baldigen Aufbruch war der Wärmehaushalt wieder zu besänftigen.

Die weitere Streckenplanung bot zwei Wege entlang von Straßen bis zum nächsten Etappenziel Altentreptow. Wir entschieden uns gegen die etwas kürzere Variante entlang der ehemaligen Bundesstraße B96, die hier degradiert wurde, seit sie parallel zur A20 führt. Es war unklar, wie viel Verkehr dort sein würde und wie sicher wir uns auf dieser Straße ohne Radweg fühlen würden. Die alternative Route westlich davon hatte zwar auch keinen Radweg, war aber nachts kaum befahren. David suchte noch einen kürzeren Zugang von Neubrandenburg heraus, der (anfangs) sogar als Radweg ausgeschildert war und durch nächtliche Wiesen und Felder führte – sehr schön! Es wurde langsamer wieder dämmrig und etliche Kilometer vor Altentreptow ging die Sonne als roter Ball über dem dunstverhangenen Tollensetal auf. Fotos können diesen Anblick kaum wiedergeben, vor allem nicht, wenn man sich vor ihrer Betrachtung nicht die Nacht um die Ohren geschlagen hat…

Die Sonne geht auf: Romantik pur (mit Windrädern)
Auf der Landstraße kurz vor Altentreptow

Wir erreichten Altentreptow gegen 7 Uhr. Meine optimistische Planung hatte urspünglich auf 4 Uhr geschätzt und weitere 8 h für die restlichen über 50 km bis Greifswald. Realistisch gesehen, konnten wir nun mit einer Ankunft in Greifswald zwischen 15 und 17 Uhr rechnen. Das war daheim so nicht kommuniziert worden und insgesamt wurde mir dieser Lauf auch etwas zu lang. So stellte sich eigentlich nur noch die Frage, wie lang wir noch laufen wollten – und gehen natürlich, denn inzwischen kamen immer mehr Gehpausen hinzu.
Davids hatte einen Telefonjoker! Seine Frau hatte angeboten, uns bei Bedarf aufzusammeln und nach Hause zu holen1. Da wir sie nicht vor dem Aufwachen anrufen wollten, einigten wir uns schon einmal darauf, dass wir auf jeden Fall noch ein Stück laufen würden; vielleicht nicht die 28 km bis zur nächsten geplanten Station Jarmen, aber etwa die Hälfte bis Klempenow. Mit diesem Wissen um das neue finale Ziel stellten wir fest, dass der eigentlich geplante Tankstellenstop in Altentreptow gar nicht nötig war, denn für den verbleibenden Teil hatten wir beide noch genug Vorräte. Hinter dem Ortsausgang nahmen wir nicht die samstagmorgens doch recht befahrene Straße, sondern einen Weg über einige Dörfer auf zunächst festen Feldwegen oder asphaltierten Nebenstraßen.

Frühnebel im Tollensetal

Auf den letzten Kilometern folgte ein Weg über Felder, der immer wieder schöne Ausblicke in die Ferne und ins Tollensetal bot, dessen wenige Höhenmeter mich aber ganz schön anstrengten. Ich musste mich motivieren, am nächsten Strauch wieder anzulaufen und dann bis zur nächsten Milchkanne oder dem nächsten kleinen Hügel weiterzutraben. Mit anderen Worten: Ich hatte endgültig den Punkt erreicht, wo es mehr um Willenskraft als Kondition ging und der vielleicht besonders wertvolles Training des „wichtigsten Muskels des Ultraläufers“ ermöglichte (der Psyche bzw. des Kopfes). So romantisch sich das anhören mag und so schön auch die Landschaft war, es reichte (mir) mittlerweile. Es war ein schönes Gefühl, den Burgturm von Klempenow, den dort beginnenden Radweg an der Straße, das Hinweisschild auf den Parkplatz und dann selbigen in einem finalen Ritt zu erlaufen. Es reichte aber auch.

Die Bilanz

150 km bedeutet: Mein längstes Lauftraining der Kategorie „selfsupported“! Zuvor bin ich 2021 als Vorbereitung auf die 100 Meilen einen Teil des Mauerwegs abgelaufen, als coronabedingt die „Generalproben“ verschoben wurden. Damals waren es am Samstag rund 72 km von Gesundbrunnen bis Griebnitzsee mit Verpflegung in Supermärkten und am Sonntag weitere 58 km bis Frohnau mit Tankstellen und Imbissen. Vor einem Jahr lief ich rund 75 km von Tessin bei Rostock mit zwei Tankstellenstops nach Greifswald. Sonst spielt sich mein Training überwiegend im Bereich 10-20 km ab, ab und zu streue ich auch mal 30 km ein, sehr selten einen Trainingsmarathon mit Supermarkt. Deshalb überwog die Freude über das Erreichte deutlich die Enttäuschung des Scheiterns.

Von der üblichen großen Erschöpfung und Müdigkeit abgesehen, ging es mir recht gut. Nur ein kleiner Ansatz einer Blase, der schnell wieder weg war. Die Beine waren in der nachfolgenden Woche sehr schwer, aber auch das ist als normal anzusehen. Der Kopf möchte sofort alle möglichen alten und dazu neue Ideen realisiert wissen, war beim Lauf aber auch nicht mehr imstande, den ermüdeten Körper zu überzeugen. Manches hätte sich besser planen lassen, doch im wesentlichen war es gut, „einfach mal zu machen und dann zu schauen“. Das Gefühl, genug Zeit und auch ausreichend Strecke vor sich zu haben, nicht hetzen zu müssen und einfach zu genießen, ist im Training fast noch besser als bei manchem Wettkampf. Die Sicherheit eines Verpflegungspunktes mit warmen Getränken und oft auch Speisen, nachts zumeist auch mit einem warmen Raum, in dem man sich etwas ausruhen kann ohne zu unterkühlen, ist grandios und lässt sich bei eigener Organisation nicht kompensieren. Es stellte sich aber heraus, dass der wichtigste Bedarf unterwegs darin besteht, genug Flüssigkeit zu bekommen. Dabei reicht Wasser erst einmal aus, denn mit etwas Isopulver lässt sich ausreichende Versorgung herstellen. Cola, Tee, Brühe und andere Getränke sind doch eher nice-to-have als unverzichtbar. Vorräte an fester Nahrung kann man so viel mitnehmen, dass es locker 100 km weit reicht. Das hätte ich zuvor nicht gedacht! Darüber hinaus bieten Supermärkte, Tankstellen, Imbisse und dergleichen ein Grundsortiment fester Nahrung an, bei dem auch Problemkinder wie ich nicht verhungern müssen. Sie sind in Deutschland meist recht engmaschig verfügbar, so dass mit etwas Planung und kleinen Umwegen die Versorgung gewährleistet werden kann. Trotzdem sind gerade in der Natur und auf dem Land auftretende „Dunkelflauten“ zu beachten, wenn Läden 20 Uhr schließen und auch Tankstellen nicht rund um die Uhr geöffnet haben. Das soll kein Plädoyer sein, dass überall alles 24/7 geöffnet sein muss, ganz im Gegenteil! Manchmal wünschte ich mir aber, dass es ein Pendant zum Apotheken-Notdienst gibt, also einen Laden, der auch dann verfügbar ist, wenn es sich eigentlich kaum lohnt. Die Kosten müssten irgendwie umgelegt werden. In der Realität gibt es einen Wettbewerb, der oftmals alles gleichmacht: Wenn ein Laden unsinnig lange öffnet, machen das alle, und wenn dann alle geschlossen sind, gibt es keine Ausnahme. Naja, bis in die frühen 90er sah das in Deutschland noch ganz anders aus, da war 18 Uhr meist Feierabend und alle waren daran gewöhnt.

Verbrauchswerte

150 km in 25 h ergibt glatte 6 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Das ist in Anbetracht der relativ günstigen Bedingungen (flache Strecke, moderate Temperaturen, nur kurze Querfeldein-Passagen) nicht herausragend schnell, doch für einen Selbstversorger-Trainingslauf ganz okay. Im Vergleich dazu sind beipielsweise beim Mauerweglauf die bessere Streckenmarkierung und -beschaffenheit, die permanente Verpflegung, das Gruppengefühl und auch eine längere Radbegleitung wichtige Faktoren, die das Laufen erleichtern können.

Essen und Getränke inklusive Frühstück bei der Bahnanreise (in Klammern: Kohlenhydrat-Anteil):
200 g Bananenchips (130 g KH), 200 g Datteln (120 g), 2 Bananen (50 g), 250 g Baguette (140 g), 2x 40 g Salzstangen (50 g), 300 g Oat bars (160 g), 100 g Riegel (60 g), 2×40 g Erdnussriegel (30 g), 175 g Honigwaffeln (100 g), 2x 65 g Waffeln (80 g), 1x Traubenzucker (10 g), 150 g Isopulver (150 g), 2×0.5 l Cola/Limo (100 g), 0.8 l Tee, 2.75 l Wasser
–> 1180 g Kohlenhydrate
Das entspricht mehr als 20 000 kJ oder 7.5 kg gekochten Kartoffeln!
–> 4.5 l Getränke
Das ist nicht übermäßig viel. Vermutlich hätte ich bei besserer Verfügbarkeit am Nachmittag und Abend mehr getrunken. Im Sommer ist sicherlich deutlich mehr notwendig als Anfang März.

  1. Davids Frau erzählte später, dass ihre Mutter nach Davids erstem Marathon meinte: „Hoffentlich artet das nicht aus“, was damals noch völlig unverstanden blieb. Inzwischen fragt sie sich, ob es eigentlich eine normale Reaktion auf die Planung eines solchen nächtlichen Trainingslaufs durch den Ehemann ist, wenn sie sofort nachdenkt, woher sie einen „Rettungswagen“ nimmt, weil das eigene Auto gerade nicht zur Verfügung steht… ↩︎