Von Bremen nach Sankt Pauli – Scheitern als (Lern-)Chance

Ein Erfahrungsbericht

Das Laufmotto reizte mich ungemein: „100 Miles in a Day: Von Bremen nach Sankt Pauli laufen“. https://www.bremensanktpauli.de/

Das Ganze startete am Pfingstsonntag um 00:00 Uhr und sollte bis Mitternacht beendet sein. Die allgemeine Vorbereitung auf diesen Saisonhöhepunkt 2023 startete wie bei mir üblich ein halbes Jahr zuvor nach einer anstrengenden Saison 2022 und einer längeren (erkältungsbedingten) Ruhephase im Oktober, die lediglich durch den gemütlich absolvierten Rügenbrückenmarathon unterbrochen war. Meist lief ich 3x wöchentlich nach der Arbeit eine Stunde mit einigen Kollegen sowie längere Einheiten am Wochenende, dabei auch den Teammarathon in Leipzig im Januar, zwei Ultras (55 & 100 km) im Februar, 100 km in Grünheide-Störitz im Februar sowie 170 km beim JUNUT im April. Als Auflockerung probierten ein Laufkollege und ich auch mal das Backyard-Format und liefen mal von 6-12 Uhr und einmal von Mitternacht bis 12 Uhr, was eine Gelegenheit bot, die ungewohnte Startzeit auszuprobieren. Franz kennt das ja von Biel, wo die 100 km um 22 Uhr gestartet werden.

Im Wesentlichen war ich mit dieser Vorbereitung zufrieden, allerdings hatte ich dabei einen überraschenden Aussetzer ausgerechnet in Störitz: Bei der 3.Teilnahme in Folge schaffte ich es dieses Mal nicht, die 100 km in rund 12 h zu bewältigen. Im Gegenteil, nach 2/3 der Strecke waren Kopf und Beine so leer, dass es mein erstes „DNF“ überhaupt wurde (von einem Kurztriathlon mit strömendem Regen in den Neunzigern abgesehen, den ich zähneklappernd nach dem Schwimmen abbrechen musste).

Nun kam also gleich das zweite DNF dazu, wovon ich hier berichten möchte. Schließlich ist halt nicht immer nur Erfolg und Sonnenschein. Insbesondere bei den Ultraläufen scheint es, als wäre ein Abbruch mit zunehmender Streckenlänge immer wahrscheinlicher. Bei manchen Läufen ist die Abbrecherquote sogar höher als die der Finisher. Bremen-St. Pauli zählt definitiv dazu: Von 20 gemeldeten Teilnehmern starteten letztlich 16; davon gaben die Hälfte unterwegs auf und von den anderen 8 schafften es nur Matthias Kranz und Matthias Kröling sowie Katrin Grieger in weniger als 24 h, die anderen fünf blieben zusammen anderthalb Stunden über dem Zeitlimit. Daran kann man schon erkennen, dass es keine leichte Aufgabe war, den Lauf fristgemäß zu finishen.

Woran es bei mir letztlich gelegen hat, dass ich selbst nach etwas mehr als der Hälfte aufgab, kann ich gar nicht genau sagen, wahrscheinlich war es eine Mischung mehrerer Ursachen. Im Vorfeld hatte ich mich auf gedanklich diese Möglichkeit eingerichtet und den JUNUT 170 zum zweiten Saisonhöhepunkt erhoben, der ja dann erfolgreich war. Das hat auf jeden Fall den Druck etwas herausgenommen und die Enttäuschung enorm reduziert.

Einerseits ist 100 Meilen in 24 h zu laufen für mich ein ambitioniertes Ziel, zu dessen Erfüllung einige Dinge passen müssen. Bisher sind meine diesbezüglichen Erfahrungen nicht gerade groß: 2021 in Berlin waren es knapp 25 h, andere Läufe waren kürzer oder langsamer, weil bergig. Andererseits war ich letztendlich so weit weg davon, die 100 Meilen zu schaffen, dass es mich etwas überraschte.

Der ursprüngliche Plan beinhaltete eine sehr frühe Anreise. Das hätte bedeutet zwischen 20 und 23 Uhr wartend allein zu verbringen, da die Organisatoren aus Hamburg stammen und erst spätabends anreisten. Der Start war direkt am Weser-Stadion, wo freundlicherweise einer der Fan-Räume genutzt werden konnte. Übrigens kamen gerade Werder-Fans vom Union-Spiel aus Berlin zurück, die nicht ganz zu wissen schienen, ob sie sich wegen des verlorenen Spiels ärgern oder den Abschluss einer erfolgreichen Saison feiern sollten.

Um einen langen Aufenthalt vor dem Stadion zu vermeiden, bin ich letztlich spät angereist und war erst 20 min vor dem Start da: Trotz Umziehen und Sachen packen im Zug war die Vorbereitung mit Briefing, T-Shirtausgabe, Dropbag, Fotos, etc. natürlich etwas hektisch! So haderte ich zu Laufbeginn noch mit den Einstellungen am GPS-Gerät und schaltete auch den Tracker nicht ein. Ob ich das hätte tun müssen oder nicht, weiß ich gar nicht, aber er lief nicht richtig und beim ersten VP gab es einen neuen.

Es liefen alle sehr schnell los, jedenfalls für mich viel zu schnell. Mittlerweile überrascht mich das nicht mehr so sehr, aber so richtig verstehe ich es immer noch nicht. An mangelnder Erfahrung liegt das definitiv nicht, denn die war auch hier bei meisten Teilnehmern riesig, was mir enormen Respekt einflößte. Sicherlich kann bei einem (langen) Ultralauf kaum jemand sein Tempo über die gesamte Distanz beibehalten wie es bei kürzeren Läufen bis zum Marathon noch möglich ist. Da ich nicht sofort abgehängt und allein sein wollte, blieb ich erst mal hinten dabei. Gefühlt waren es 9-10 km/h und der erste VP nach ca. 18.5 km war schon nach glatt 2:00 h erreicht. Gegenüber dem erforderlichen Mindesttempo für 100 Meilen in 24 h von 6.7 km/h ist das fast das anderthalbfache! Eine meiner Sorgen ist das freie Navigieren mittels GPS-Gerät, also das Finden der Strecke und rechtzeitige Abbiegen, aber hier war das (noch) entlang des Weser-Radweges und daher sehr einfach. Da hätte ich also wirklich langsamer laufen müssen, vielleicht hätte das dann noch jemand anderes gemacht.

Die Dunkelheit war kein Problem. Ende Mai, in der Nähe bzw. an den Ausläufern der Großstadt in einer sternenklaren Nacht mit etwas Mondschein war es auf dem Deich alles andere als stockdunkel, da genügte selbst eine recht schwache Stirnlampe. Das war auch kein Problem, als es später in der Nacht kleinere Waldabschnitte gab. Die Morgendämmerung setzte bereits vor 4 Uhr ein und 5 Uhr war es sogar hell genug, um ohne Stirnlampe zu laufen.

Da meine alten Schuhe bereits alle sehr herunter waren (im Durchschnitt hatten sie deutlich über 1000 km weg, wobei ich einige spezielle Paare nur zur Abwechslung oder bei bergigen Trailläufen trage), hatte ich zwei Wochen zuvor beim Rennsteiglauf zwei Paar Laufschuhe gekauft. Nach einem in der zweiten Hälfte (vor allem bergab) zu schnell gerannten Rennsteiglauf-Marathon war ich aber erst einmal körperlich geschafft. Ein Paar erlebte zumindest das Auslaufen am übernächsten Tag, doch wegen schmerzender Oberschenkel lief es nicht recht (5-6 km Traben). Dann kam die große Erkältung, ausgehend oder begleitet von Allergie-Problemen. Damit lag ich erst im Bett und war dann so schlapp, dass ich lieber gar nicht erst gelaufen bin. Das ist natürlich nicht optimal vor 100 Meilen, doch auch sonst ist vor so einem langen Lauf in der letzten Woche fast nur Ruhe angesagt. Die neuen, nicht eingelaufenen Schuhe drückten jedenfalls und belasteten die Fußgelenke, was beim Lauf deutlich zu spüren war.

Dazu kam ein fast stechender Schmerz beidseitig an den Rippen, wo die Laufweste an den Brustkorb drückte. Das war völlig neu und unangenehm! Ein wenig Linderung verschaffte es, die Laufweste nur oben zu schnüren, aber dann schlackerte es wegen der beiden Trinkflaschen. Wie viel Trinken erforderlich ist, kann ich oft nicht gut einschätzen. Manchmal trinke ich zu wenig, meist aber reichlich. Wegen der Wärme am Tag war natürlich der Salzhaushalt zu beachten. Der Plan bestand ursprünglich darin, meist eine Flasche mit Wasser und die zweite Flasche mit Iso-Getränk zu füllen; das Pulver war selbst zusammengestellt und in kleinen Tüten dabei. Das ging zunächst ganz gut, aber möglicherweise habe ich mich doch verschätzt und es wurde hier eines der größeren Probleme.

Sowohl bei VP2 (40 km) als auch VP3 (61 km) wurden meine jeweiligen MitläuferInnen kurz vor dem VP langsamer und beendeten dann leider den Lauf. Ich selbst fühlte mich nach 40 km noch gut, doch beim VP3 nach 61 km merkte ich schon so einige Probleme. Nun wurde es warm und sehr einsam, Die Orientierung klappte ohne Probleme, aber permanent das GPS-Gerät in der Hand zu halten war noch immer ungewohnt. Die Strecke bis zum nächsten VP4 bei 78 km zog sich ganz schön hin entlang einer wenig befahrenen Straße, an Feldern vorbei über kleine Hügel, querte die A1 unten und oben. Abgesehen von einem Pärchen, das wir überholt hatten und von dem nicht sicher war, ob sie noch im Rennen waren (sie liefen deutlich über 100 km), war ich nun allein hinten, wobei das bei so einem kleinen Feld wenig bedeutet.

Nach glatt 10 h waren bei VP4 mit 78 km knapp die Hälfte der Strecke absolviert. Eigentlich eine gute Zeit, die genügend Reserven für die anstrengendere zweite Hälfte, die beginnende Hitze und die Müdigkeit am Abend bieten sollte. Am VP4 startete gerade ein Läufer und ein anderer machte noch Pause. Da es ein „großer“ VP mit besonders umfangreichem Angebot einschließlich warmer Gemüsesuppe und dem Dropbag zum Nachfüllen der Vorräte sowie für Kleiderwechsel war, war eine längere Pause sinnvoll. Wegen der unsicheren Schuhsituation hatte ich ein Paar meiner uralten Laufschuhe eingepackt und wechselte auf diese. Hier sollte vielleicht endlich einmal erwähnt werden, dass der Lauf von 5 Enthusiasten aus Hamburg organisiert wurde, die etwas Großartiges auf die Beine stellten:

Obwohl sie nur so eine kleine Gruppe sind und sich das Feld erwartungsgemäß weit auseinander zog, gab es etwa alle 20 km die Verpflegungspunkte mit einem sehr breiten und spezifisch für Ultraläufer ausgewähltem Angebot. Wasser, Iso, Cola, Fanta, Kaffee gab es überall, meist auch Brühe und Bier. Salzige und süße Snacks, selbstgebackener Kuchen, Obst und Gemüse, Brot mit Aufstrichen sowie Riegel wurden angeboten. „Der Einfachheit halber bieten wir alles vegan an“ – was für eine Knalleraussage für jemand wie mich, der Probleme mit Milchprodukten hat und normalerweise gar nicht erst das Wort „laktosefrei“ anbringen mag, um nicht wie ein Nörgler zu wirken. Klar, bei den 100 Meilen von Berlin ist die Vielfalt noch größer, auch dank der ganzen Helfer sind die Stände größer und individueller bestückt. Aber was bei vielen hundert Teilnehmern geboten wird, kann von einer Handvoll Leute für anderthalb Dutzend Läufer unmöglich erwartet werden. Es war einfach toll!

Zurück auf der Strecke gab es nun immer mehr Radfahrer. Der Weg führte entlang eines Radwanderwegs, des nächsten Flusses, des nächsten Orts (Sittensen) – und da waren sie wieder, die ewigen treuen Krisenbegleiter Erschöpfung und Zweifel. Wozu das alles – Du bist doch müde und geschafft, wer weiß, ob die Zeit überhaupt reicht, es ist heiß und Durst hast Du auch… Der Podcast war wie geplant nicht zu aufregend, sollte mich ja noch stundenlang beschäftigen ohne aufzuregen. Manchmal hilft dann noch, in den Power-Modus überzugehen: Aufputschende Musik und reichlich Cola. Aber irgendwie hatte ich für beides scheinbar die Gelegenheit verpasst…

Der nächste VP, Nummer 5 nach 95 km, ist der einzige unbesetzte VP. In der Mitte des Rennens wird es nicht nur schwierig, die sich überschneidenden VP-Zeiten zu bedienen, sondern auch so warm, dass die einzelnen Abschnitte nicht zu lang sein sollten. VP5 lag klar beschrieben und einfach zu finden an einem Schuppen der Bahnanlagen direkt neben einem Bahnübergang und bot Getränke zum Auffüllen von Körper und Trinkflaschen. Langsam kam er näher, doch als er schließlich nach knapp über 13 h erreicht war, stand die Entscheidung schon fest: Aufgabe! Daran änderte auch das Trinken nichts. Schweren Herzens rief ich die Rennleitung an und teilte den Entschluss mit. Da gab es keinen Überraschungsmoment, schließlich lag ich recht weit hinten, es hatten schon mehrere Läufer aufgegeben und welchen anderen Grund sollte es sonst auch geben für einen Anruf? Überzeugungsarbeit kann man vielleicht leisten, wenn es sich um einen Lauf mit kurzen Runden oder geringen Abständen zum nächsten VP handelt. Hier war auch die Aussicht auf Nudelsalat nicht verlockend genug, weitere 11 km zu absolvieren. So holten mit die freundlichen Organisatoren mit einem Auto ab und fuhren mich zum nächsten Bahnhof, während des zweite mit meinen Sachen ebenfalls dorthin kam (Dropbag und Rucksack fürs Ziel). Damit konnte ich direkt heimfahren und hatte noch als Trostpflaster etwas restliches Pfingstwochenende zum Ärgern, äh zur mentalen Aufarbeitung des Laufs.

Der Lauf schien zunächst ein Versuch der Organisation eines Ultralaufs zu sein, bei dem nicht klar war, ob es eine Wiederholung geben würde. Am Veranstaltungstag  hieß es dann bereits, dass die fünf mit dem bisherigen Verlauf der Premiere insgesamt ganz zufrieden waren und eine Neuflage in zwei Jahren planten. Inzwischen wurde die 2.Ausgabe von Bremen-St. Pauli auf Pfingsten 2024 gelegt – eine Woche nach dem Rennsteiglauf. Da ist sie, die Gelegenheit, eine offene Rechnung zu begleichen, liebe Freunde!

So verabschiede ich mich mit einem „Manche lernen’s nie“,

Ralf

PS: Es lohnt sich wirklich, diese kleine aber feine Veranstaltung anzugehen. Kein Megaevent, aber eine Herausforderung für Körper und Geist mit sehr schöner Streckenwahl.

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